Oktober 89: Brief an
die Kreisleitung der SED (anlässlich der „persönlichen Gespräche
zum Dokumentenumtausch“) 16.10.89 Anfang Oktober konnte ich keine Nachrichten mehr hören, weder Ost noch West. Ich fühlte mich ratlos, in die Ende getrieben, wehrlos, ohnmächtig angesichts der irrsinnigen Fluchtwelle. Und ich verzweifelte daran, dass unsere Parteiführung so uneinsichtig, so bewegungslos war, dass es sinnlos schien, auf sie zu hoffen. Und die Ohnmacht wurde noch vertieft durch Kommentare aus unserer Bereichsleitung wie „...die da weggehen, sind alles Feinde, die haben auch in der Kommunalwahl gegen uns gestimmt, die brauchen wir nicht, wir können froh sein, dass die weg sind.“ Vorige Woche dann die Erklärung des Politbüros. Eine Reaktion zwar, aber von Anfang an enttäuschend, und es war mir klar, dass der aufgebrachte Teil unseres Volkes diesen mageren Erneuerungsankündigungen kaum Glauben schenken würde. Es schien und es scheint, als hätte man noch immer nicht begriffen, dass das Vertrauen dieser Massen s o f o r t zurückgewonnen werden muß. Denn wenn die Fluchtwelle sich fortsetzt, und wären die Grenzen zur CSSR und Polen nicht so gut bewacht, wäre sie vermutlich nach wie vor riesig, wenn das so weitergeht, dann bluten wir aus und bekommen am Ende vielleicht so viel Schwierigkeiten, dass es überhaupt keinen Ausweg mehr geben könnte, der etwas mit dem Sozialismus zu tun hat. Junge Bergsteiger sagten mir gestern: „Die halten uns nur hin, die wollen uns beruhigen, und dann geht es im alten Stil weiter. Weshalb bringen sie dir denn in Dresden die Ausreiseanträge fast ins Haus? Die wollen alle Andersdenkenden loswerden und dann in Ruhe den alten Kurs weiterfahren.“ Ich weiß nicht, ob das stimmt. Auf jeden Fall will ich nicht mitschuldig werden, wenn die Dinge wieder im Sand verlaufen. Ich werde hier deshalb meine Fragen und Vorstellungen klar und offen formulieren. Wissen wir nicht seit Jahren, dass unsere Medien und dabei besonders unser Fernsehen stumpfe Waffen sind beim Kampf um einen gutfunktionierenden, vom ganzen Volk getragenen Sozialismus? Haben wir nicht, als die Zuschauerzahlen gar so schlecht wurden, als wichtigste, fast einzige Konsequenz daraus verboten, diese Zahlen zu veröffentlichen? Ist nicht seit Jahren bekannt, dass die Aktuelle Kamera geradezu angefeindet wird von großen Teilen des Zuschauervolkes (die Untermäßigkeit des DDR-Fernsehens wurde mir immer wieder anhand der AK unter die Nase gerieben, vor allem anderen wurde immer wieder die AK genannt)? Wissen wir nicht, dass, wer die AK nicht guckt, sich seine Informationen in der „Tagesschau“ oder „Heute“ besorgt? Wer hat das weshalb ignoriert? Wer hat ein Interesse daran, immer nur Erfolge auf den Sender zu bringen, in einem Land, in dem es – neben Erfolgen – von Schwierigkeiten nur so wimmelt (ich komme noch dazu)? Wer hat diese gegen jeden gesunden Menschenverstand verstoßende Erfolgpropaganda angeordnet? Wem war es völlig gleichgültig, ob das Volk das annimmt oder nicht ( und wem ist es vielleicht heute noch egal, dass wir, die Medien, als noch belastender empfunden werden als Versorgungsprobleme oder Reisebeschränkungen)? Keine Frage, wir , die Medien, stehen – zu Recht - vordergründig im Kreuzfeuer der Kritik. Aber wir haben einen Vorzug. Bei uns würden eine Änderung, eine Öffnung für die wirklichen Themen der Zeit, den wenigstens materiellen Aufwand und die wenigste Zeit kosten. Vertrauensbildende Zeichen sind bei uns viel schneller zu setzten als durch nur langsamwirkende Wirtschaftsreformen oder devisenintensive Reiseerleichterungen. Deshalb müssen wir heute und sofort ernst machen mit der Erneuerung. Die Probleme dieser Tage gehören auf den Sender, die derzeitigen Auseinandersetzungen, die Stärken und Schwächen unseres Landes, und vor allem konstruktive Vorstellungen für die künftige Gesundung. Aber darunter verstehe ich nicht - wie jetzt zu beobachten -, dass erneut handverlesene Arbeiter mit exakt den Schwerpunkten und Formulierungen der letzten offiziellen Partei-Verlautbarung zu Wort kommen. Und darunter verstehe ich auch nicht, dass feigenblattartig irgendwo mal im Programm (bei „1199“ vielleicht) auch ein wahrhaftiger Kritiker sich äußern darf. Unser Sender muß bestimmt werden von diesen Auseinandersetzungen, vom Ringen um einen für alle anziehenden Sozialismus. Die Angst vor Widersprüchen, vor Streit, vor Auseinandersetzungen hat und nachweislich mehr geschadet als genutzt. Der Glaube an die allmächtige Weisheit des Politbüros ist fehl am Platze, auch diese Genossen müssen sich der Kritik stellen, und sie müssen, wenn sie zu viele Fehler machen, auch abgelöst werden können. Das aber setzt voraus, dass Politik insgesamt durchschaubarer gemacht wird in unserem Land. Dass die tragische Portionierung der Information (auch dafür sind letzten Endes wir verantwortlich) ersetzt wird durch ein echtes Miteinander von Volk und Regierung, unter anderem über die Medien. Das Volk erfährt in jedem Detail, wie und warum Partei und Regierung entschieden haben, und diese wiederum bleiben nicht im Unklaren darüber, wie ihre Politik beim Volke ankommt. So sind gegenseitige Überraschungen wie die derzeitigen so gut wie ausgeschlossen. Ob das allerdings mit den Genossen möglich ist, die jahrzehntelang nur Schönfärberei betrieben haben, ob sie die wahre Bedeutung der Medien beim Kampf um die Massen noch erkennen können, entzieht sich meiner Beurteilung. Fakt ist, dass die sofort nötige Vertrauensbildung nur über eine neue Medienpolitik funktioniert. Ich habe mich, weil mir das am nächsten liegt, vordergründig mit den Medien befasst. Ich will vor diesem meinem persönlichen Gespräch zum Dokumententausch wenigstens stichpunktartig noch eine Reihe anderer Themen anführen, die mich drücken, weil sie nach meiner Meinung mit einem anziehenden Sozialismusbild wenig zu tun haben. Ausgangspunkt ist, dass wir angetreten waren, den Volksmassen ein besseres Leben zu sichern als in der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft. Worin sonst hätte wohl der Sozialismus seinen Sinn. Wir hatten vierzig Jahre Zeit (vierzig Jahre ohne Krieg), die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen. Aber jetzt gibt es eine Fluchtbewegung in Richtung Kapitalismus, und Hunderttausende gehen auf die Straße. Ich unterschätze nicht den Einfluß des Westens, aber ich bin absolut sicher, die eigentlichen Ursachen liegen bei uns. Die Theoretiker sagen (und sind, glaube ich, nicht widerlegt), dass am Ende die höhere Arbeitsproduktivität den Kampf entscheidet Alles, was dem Volk jetzt so auf den Nägeln brennt, die tragische Versorgungslage, die bösen Zustände unserer Straßen, der Werkstätten, des Telefonnetzes, der Gaststätten, der Umwelt, der Altbausubstanz, des Dienstleistungswesens, die veraltete Ausrüstung unseres Bauwesens, der Landwirtschaft, der Industrie, all das ist nur zu verändern durch eine besser funktionierende Wirtschaft. Das gilt ebenso für unsere Währung, die uns in jedem anderen Land der Welt zweitklassig macht, was besonders beim Zusammentreffen mit Bundesdeutschen geradezu unerträglich ist, die Eiterbeulen wie die Intershops gebiert, an denen unsere besten Arbeiter mit scheelem Blick vorbeigehen müssen, nur weil sie nicht das Glück haben, eine mildtätige Westoma zu besitzen – all diese Nadelstiche für das Volk resultieren aus unserer mangelhaft funktionierenden Wirtschaft. Und so müssen parallel zu den erwähnten vertrauensbildenden Zeichen in den Medien tiefgreifende Wirtschaftsreformen in Angriff genommen werden. Ich war gerade in einem Land (China), in dem vor 11 Jahren der Mut zu Reformen ganz bemerkenswerte Ergebnisse gezeitigt hat. Ich will damit nicht sagen, dass das chinesische Modell für uns passend wäre, aber den Mut zu Reformen halte ich schon für beispielhaft. Allerdings glaube ich, dass ein scheinbar allwissendes Politbüro, das über seine Parteifunktionäre auch die letzten Details bestimmt, jede Reformbewegung ersticken würde. Mehr Mitbestimmung, mehr Demokratie, mehr Weisheit des Volkes, mehr Kampf der Widersprüche, mehr Marktorientierung, mehr Psychologie – das käme uns in Wirtschaft und Politik zugute. Niemand, der seine Arbeit nicht gut macht, darf mehr vor Konsequenzen sicher sein. Das muß für den Drückeberger im Betrieb gelten, aber auch für den, der an den Hebeln der Macht sitzt. Und natürlich müssen wir uns dafür das demokratische Instrumentarium schaffen. Ich habe bis zur Rente noch 14 Jahre zu arbeiten. Ich brenne darauf, in diesem verbliebenen Rest meines Berufslebens dafür zu wirken, dass der Sozialismus vielleicht doch noch seine Überlegenheit beweist. Als kritischer, aber immer konstruktiver Journalist. Und wenn ich von dem überzeugt sein werde, was dann in Angriff genommen wird, dann werde ich mit meinem ganzen journalistischen Können im Volk für die Geduld werben, die solche Reformen vermutlich voraussetzen.
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