Brief an einen kanadischen Kameramann (mit dem ich 1976 während der Olympischen Spiele in Montreal täglich zusammen gearbeitet hatte, zu dem ich nach den Spielen alle Kontakte abbrach, weil wir solche Freundschaften nicht pflegen durften, und der mir ein halbes Jahr nach dem Mauerfall – 24 Jahre nach Montreal – einen Brief schrieb (ans DDR-Fernsehen), in welchem er mich fragte, ob ich nun auch frei sei und ob ich ihn besuchen könne, und wie es meiner Tochter ginge - er hatte vergessen, dass es ein Sohn war) W., 21.10.90 Lieber U., ich habe es immer gesagt, in letzter Zeit zwar seltener, aber einmal im Jahr mindestens, immer wieder habe ich gesagt, von den U. höre ich noch mal was, und ich würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages in der Tür steht. Und nun dieser Brief! Phänomenal! Ich habe geschrien vor Begeisterung und sofort all meinen Kollegen die Geschichte unserer Bekanntschaft erzählt. So viele Leute habe ich kennengelernt in all den Jahren, nette und bedeutende waren darunter, und fast alle habe ich sie vergessen, oder es weder für möglich noch für nötig gehalten, sie jemals wiederzusehen. Ich kann gar nicht mehr so genau sagen, was es eigentlich war, das mich an Dir, an Euch so beeindruckte (denn N. habe ich auch nicht vergessen, ganz gewiß nicht), auf jeden Fall habe ich in den ersten Jahren unheimlich oft von Euch erzählt, und selbst meine zweite Frau, die ich erst 9 Jahre nach der Zeit in Montreal geheiratet habe, kennt Euch sehr gut aus meinen Schilderungen. Weißt Du, was ich, wenn ich von Dir berichtete, am häufigsten erzählt habe? Als Du mit mir an einem Nachmittag in der Pause, die der Film zum Entwickeln brauchte, in einen Pub ein Bier trinken gegangen bist, und dann kam die Kellnerin an den Tisch, und die war „oben ohne“. Das war für einen Menschen aus der DDR ein Schock fürs Leben. Und dann erzähle ich noch, wie Du mit den Knien Dein Auto gelenkt und dabei gedreht hast. Ich habe seitdem x-mal versucht, meinen Trabi mit den Knien zu lenken, es ist mir nicht gelungen. Übrigens – meine Tochter ist ein Sohn, ich sehe ihn trotz der Scheidung jede Woche mindestens einmal, er ist inzwischen ein begabter Tennisspieler geworden. Ich arbeite immer noch beim Fernsehen, denn sonst hätte mich Dein Brief sicherlich nicht erreicht. Ich erinnere mich noch sehr gut, teilweise bis ins wörtliche Detail, welche Schwierigkeiten Du hattest, bestimmte Verhaltensweisen bei mir oder meinen Kollegen zu verstehen, beispielsweise, warum ich an meinem freien Tag nicht mit Dir in Dein Landhaus, eine alte Schule wars wohl, gefahren bin, obwohl Du merktest, dass ich das gern gewollt hätte. Und wie ich sorgenvoll den Kopf eingezogen habe, als Du meintest, ich könnte doch in Kanada bleiben und meine Familie hinterherholen, wie ich mich scheu umgesehen habe, ob nicht möglicherweise ein Fremder diese „gefährliche“ Diskussion mitgehört haben könnte. Jetzt sind wir die, die uns damals in permanenter Verunsicherung hielten, endlich los, es hat lange gedauert, und für mich, ich bin jetzt 52, fast zu lange, aber was solls. Wir machen einen neuen Anfang, wir sind – trotz der erheblichen Startschwierigkeiten, die unsere Länder zur Zeit schütteln, voller Optimismus, und in diese Stimmung fügt sich Dein Brief geradezu nahtlos ein. In Deiner Ur-Heimat, in Bayern, bin ich nach der Wende auch schon gewesen, zuletzt mit Frau und Kind, ein großartiges Land, nur sind mir die Bayern ein bißchen zu selbstgerecht, wir aus der ehemaligen DDR werden wohl noch lange Zeit brauchen, um von ihnen als gleichberechtigt akzeptiert zu werden. Den Urlaub haben wir in diesem Jahr in Frankreich verbracht, wenn uns das jemand vor einem Jahr prophezeit hätte, den hätten wir für verrückt gehalten. Bei mir hält sich der Reisedruck eigentlich in Grenzen, weil ich während der ganzen Jahre (mit Ausnahme der Zeit nach der Scheidung, da war ich ein zu „unsicherer“ Kandidat), weil ich also alle die Jahre doch recht regelmäßig die Welt bereisen konnte. Aber meine Frau hat tatsächlich bis zur Maueröffnung nicht einmal einen Zipfel der westlichen Welt zu sehen bekommen, sie hat den Real Existierenden Sozialismus tatsächlich bis zur Neige auskosten müssen. Da ich vermute, dass es Euch interessiert, hier in Stichworten mein holpriger Lebensweg seit 76:............................................... ............................................. So weit die privaten Dinge, über die politische Entwicklung in unserem Musterländle werdet Ihr ja wohl auch im fernen Kanada einigermaßen informiert sein. Man ist sich bei uns einig, dass der Urvater der Bewegung natürlich Gorbatschow ist, und deshalb verehren wir ihn alle, obwohl sein Absturz sich schon abzeichnet. Nach der Begeisterung im Herbst vergangenen Jahres, die Stalinisten hatten wirklich kaum noch Anhänger im Volk, alle waren froh, dass der Spuk endlich vorbei war, nach der anfänglichen Euphorie also und nach der Gewöhnung an die Freiheit setzten die Sorgen um die Arbeitsplätz ein, und die bestimmen auch jetzt noch die Stimmung. Gottseidank ist die Reaktion keine nostalgische, es meinen also relativ wenige, dass es früher besser gewesen sei. Vielmehr setzt eine erstaunliche Mehrheit auf den konservativen Bundeskanzler Kohl, vermutlich, weil man meint, er verfüge über jene Milliarden, die wir jetzt so dringend brauchen. Denn durch die (vermutlich) übereilte Währungsreform, bei der unsere Ostmark in Westmark getauscht wurde, was erst mal ganz gut klingt, durch die aber unsere rückständigen Betriebe von einem Tag zum anderen dem kalten Wind der westlichen Marktwirtschaft ausgesetzt wurden, durch diese Währungsunion also geht nun die Mehrzahl unserer Betriebe erstmal bankrott. Und entläßt Arbeiter, die zwar immer Sorgen hatten, nur die eine nicht, dass sie nämlich jemals ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Aber diese Turbulenzen sind wohl bei einem so historisch einmalig schnellen Umstieg von sozialistischer Kommandowirtschaft auf kapitalistische Marktwirtschaft nicht zu umgehen. Drückt uns die Daumen, dass die Dinge bald ins Lot kommen! Am Abend vor der Vereinigung war ich – aushilfsweise, für Kolleginnen, die aus Sorge, es könnte Krawalle geben, sich krank meldeten – Live-Reporter für unser Fernsehen am Brandenburger Tor in Berlin. Es war eine ruhige, gelöste Atmosphäre, die meisten Menschen hier sind ja auch froh über die Einheit Deutschlands. Den Krawall habe ich dann doch noch erlebt, am nächsten Abend (3.10.), als ich privat auf dem Berliner Alexanderplatz war. Alternative und Chaoten hatten nach einer Gegendemonstration zur Einheit Schaufensterscheiben eingeschlagen, Autos angezündet und Polizisten mit Steinen beworfen. Ich war so fasziniert von dieser für uns völlig neuen Erfahrung, dass ich drei Stunden lang immer mit hin- und hergerannt bin, mal mit der Polizei, mal mit den Chaoten, ich habe in den Laufpausen sowohl mit den einen wie mit den anderen ellenlange Gespräche geführt, weil ich unbedingt wissen wollte, was da läuft, Motive, Hintergründe. Habs aber nicht herausbekommen. Am besten verbucht man so etwas wohl in der Kategorie „Preis der Freiheit“, denn das haben wir in der Zwischenzeit natürlich gelernt, dass die Freiheit nicht nur Angenehmes mit sich bringt (dazu gehört auch, dass ich u.U. in der nächsten Woche eine Reportage über Drogenprobleme machen werde, bisher gab es bei uns so gut wie kein Rauschgift). Na gut, lassen wir es dabei bewenden. Wenn unsere Beziehung nicht wieder abreißt, und ich gehe davon aus, dass wir das beide nicht wollen, kann ich Euch ja auf dem Laufenden halten. Wenn Euch das überhaupt interessiert, es kann natürlich auch sein, fällt mir in diesem Augenblick ein, dass wir DDR-Leute anderen mit unserer derzeitigen Nabelschau ganz schön auf den Geist gehen. Kanada ist gewiß ein bedeutenderes Land als die ehemalige DDR, und bei Euch ist, wenn ich die Zeichen richtig deute, ja auch nicht gerade alles eitel Sonnenschein (ich erinnere mich noch gut an die Probleme, die es damlas gab zwischen französisch- und englischstämmigen Kanadiern, und ruhiger ist es um diese Angelegenheit ja wohl nicht geworden) – naja, wenn ich uns also ein bißchen zu ernst genommen habe in Euren Augen, dann entschuldigt das bitte, aber das ist im Augenblick in der ehemaligen DDR so üblich. Der Stein, der hier beiliegt, ist aus der Mauer in Berlin, selbst geerntet, als wir an einem regnerischen Tag zugesehen haben, wie Einheiten unserer ehemaligen Grenztruppen mit schwerer Technik die Mauersegmente abrissen. .................................. Es wäre toll, wenn wir uns 1991 begegnen würden. Die Chancen stehen, denke ich, gar nicht so schlecht, da wir jetzt beide auch die begehrte Westmark verdienen. Wenn Ihr kommt, werden wir mit Euch angeben, mit „unseren“ Kanadiern. Und wenn wir kommen, werden wir unsere Tagebücher der letzten drei Jahre mitbringen. Da steht viel Authentisches drin über das unglaubliche Geschehen in unserem Land. Bis dann, viele Grüße! (Wir besuchten die beiden 1991 in Kanada, ein Jahre später waren sie bei uns in W.)
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