Textauszüge

 

1957:

Im Mai 57, ich war gerade 19 geworden, gab es ein Ereignis, dem ich zunächst keine sonderliche Bedeutung beimaß. Ich wurde von der Stasi verhört, weil sie meinte, ich hätte im Studentenclub im Suff irgendeinen politisch auszulegenden Unsinn verzapft, Broschüren umher geworfen oder so etwas ähnliches. Ich war es aber nicht. Das gab mir eine grinsende Überlegenheit, die ihnen offenbar imponierte. Sie meinten, man könne sich doch öfter mal treffen und über die Dinge des Lebens reden. Auch über eine Laufbahn als Spion beispielsweise. Vielleicht sogar im Ausland. Im kapitalistischen natürlich. Ich willigte ohne zu zögern ein, war das doch endlich einmal etwas Neues und Interessantes in meinem trüben, langweiligen Halleschen Dasein.

Damit hatte ich mich fürs Leben infiziert, es dauerte immerhin 44 Jahre, bis die Krankheit, dann allerdings mit beinahe tödlicher Wucht, zum Ausbruch kam. Ich werde darauf zurückkommen. 

Zunächst habe ich kein Problem mit meinem Stasikontakt. Ich treffe mich ab und zu mit einem von denen, sie wollen wissen, was an der Uni los ist, welche Probleme diskutiert werden, welche Stimmung herrscht. Ab und an fragt er gezielt nach der Gesinnung von Personen, von Studenten, auch von Lehrkräften. Ich antworte ihm frank und frei, denn da ich niemand kenne, der staatsfeindlich eingestellt ist, kann ich, so glaube ich zumindest, auch niemand mit einer realistischen Einschätzung schaden. Dass diese Rechtfertigung nicht stimmt, hätte ich mir eigentlich selbst sagen können. Welch rüde Konsequenzen eine durchaus akzeptable Gesinnung nach sich ziehen konnte, hatte ich doch gerade bei der Philosophieprüfung erlebt. Vermutlich aber habe ich schon damals die Zusammenarbeit mit der Stasi instinktiv als eine Art Schutz betrachtet für den Fall, dass man mir wegen meiner politischen Nörgelei einmal richtig ans Leder wollte (neulich las ich dafür ein treffendes geflügeltes Wort: „Mich packt die Angst, wenn ich bedenke, wie viel Mut ich habe“).  Außerdem war ich  absolut sicher, dass dies fragwürdige Zusammenspiel nie ans Tageslicht käme. Welch gewaltiger Irrtum.

 

1963:

Eines Abends sitze ich mit meinem Zehnkampfkollegen Jürgen H. gemeinsam auf  meinem Internatsbett. Wir reden über die Dinge des Lebens, irgendwann auch über unsere berufliche Zukunft. Existenzielle Sorgen müssen wir uns natürlich nicht machen. Er ist studierter Lehrer, ich studierter Wirtschaftswissenschaftler. Die DDR leidet permanent an dramatischem Arbeitskräftemangel, wir werden auch nach unserer jahrelangen beruflichen Pause ohne Weiteres  Arbeit finden. Er wird Lehrer sein, ich Hauptbuchhalter oder so etwas Ähnliches. Aber genau davor graut uns. Er mag seinen Beruf nicht, und ich den meinen erst recht nicht.
Wir spinnen ein bisschen herum. Gäbe es überhaupt etwas, das uns Freude bereiten könnte, wenn die Zehnkämpferei mal zu Ende ist? Außer Sport interessiert uns doch gar nichts so richtig.
Irgendwann fällt das Stichwort „Sportreporter“. Das elektrisiert uns. Genau das wär’s! Kreativ arbeiten, ungebunden sein, Auslandsreisen, von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, etwas Besonderes darstellen, und das alles, ohne das Sportmilieu verlassen zu müssen. Wir glühen, als wir die Vorzüge dieses Berufes zusammentragen. Und dann fallen wir in uns zusammen. Keiner unserer Bekannten ist je Sportreporter geworden, wer weiß, was man da können und wen man da kennen muss. Resümee - es wäre ein aussichtsloses Unterfangen.
Wir sitzen auf dem Bett und gucken ernüchtert vor uns hin. Aber dann sage ich, zugegebenermaßen nicht sehr forsch: „Man könnte es doch wenigstens mal versuchen.“

Und schon am nächsten Tag versuche ich es.
Ich gehe in die Redaktion unserer Tageszeitung „Freiheit“, erzähle, was am Abend vorher mit welchem Ergebnis gesponnen wurde, verweise darauf, dass ich seit meinen Jugendjahren regelmäßig Tagebuch führe, meine Sportkenntnisse stehen ohnehin außer Frage (man kennt mich als Zehnkämpfer), einen Hochschulabschluss kann ich auch vorweisen – am Ende sagt der Redakteur, er würde es mit mir als Freiem Mitarbeiter versuchen. Sieg!

 

1984:

Beim Fernsehen wartet die nächste Reportage-Aufgabe auf mich. Ich soll einen besonders erfolgreichen Ostsee-Flundernfischer vorstellen.

Der Mann ist ein bärtiges, trinkfreudiges Urvieh, wir verstehen uns sofort. Am frühen Morgen tuckern wir mit seinem Kutter los, ich will ihn 24 Stunden lang rund um die Uhr begleiten. Doch wir kommen nicht weit. Bevor wir auf die offene Ostsee hinausfahren, müssen wir einen Kontrollpunkt anlaufen. Die Papiere werden geprüft, insbesondere die Genehmigungen zum Verlassen des Uferbereichs. Alarm: wir, das Fernsehteam, dürfen uns laut Papier nur ein paar hundert Meter vom Strand entfernen. Wir sind alle drei keine „Westreisekader“, weiter draußen ist die Ostsee so gut wie „Westen“, die schicken uns tatsächlich zurück.

Ich hänge mich ans Telefon, argumentiere aufgeregt, dass es so nah am Ufer überhaupt keine Flundern gäbe, dass der Mann und seine Fischerei aber insgesamt ein wundervolles Thema seien, und man solle doch versuchen, die Staatssicherheit umzustimmen. Wieder ein hörbares Zusammenzucken, als ich das Wort „Staatssicherheit“ so unbedarft in den Mund nehme, aber ich solle erst mal im Norden bleiben und abwarten.

Um die Zeit des Wartens zu nutzen, fahre ich mit dem Kameramann nach Stralsund ins Meeresmuseum. Dort hoffe ich, eine Flunder schwimmend drehen zu können. Das klappt auch, aber nicht nur das. Die Flunder, wenn ihr irgendetwas nicht passt, legt sich auf den Grund und vibriert so lange mit den Flossen, bis sie völlig vom Sand bedeckt ist, sie geht  quasi „in Deckung“. Diese Bilder werden später, im fertigen Film, großes Vergnügen erzeugen.

Drei Tage später kommt die Genehmigung, zwar immer noch nicht für die gesamte Ostsee, sondern nur für ein paar Meilen, aber das reicht aus.

Der Kapitän erklärt mir am Beginn des Fangtages, wie viel Kisten Flundern er in 24 Stunden fangen muss, um „den Plan zu erfüllen.“ Weil das einen ganz natürlichen Spannungsbogen ergibt, zählen wir mit. Später, am Schneidetisch, füge ich jedesmal, wenn das Netzt ausgeworfen wird, die sich versteckende Flunder aus Stralsund ein.

Nach der Hälfte des Tages wird unser Kapitän nervös, als am Ende schließlich kaum mehr als die Hälfte der geplanten Flundern an Deck ist, dröhnt er voller Resignation: „Alles Scheiße, deine Elli“.

Natürlich verwende ich  in meinem Film diesen Elli-Schrei als Schlußsequenz, weil man besser den verkorksten Fangtag gar nicht zusammenfassen kann. Beim Publikum kommt das an, wie ich einer Reihe von fröhlichen Bemerkungen entnehmen kann. Aber:

 

Tagebuch vom 26.9.84

 

Dieser Schlußsatz stieß auf allerhöchste Parteikritik. „Aus der Stadt“, also vom Politbüro, wurde mitgeteilt, angesichts des bevorstehenden 35.Jahrestages der DDR sei der Satz mit der „Elli“ höchst unpassend.

 Meine Chefs, nachdem sie mir vorher ausnahmslos auf die Schulter geschlagen hatten, sahen betreten an mir vorbei, das „Neue Deutschland“, das eine freundliche Rezension angekündigt hatte, schrieb nun doch nicht.

Aber dann, aus welchen Gründen auch immer, drehte sich der Wind wieder.

Das ND lobte nachträglich nun doch die Vorzüge des Streifens, und alle meine Chefs strahlen wie Bolle, wenn sie meiner ansichtig werden.Die Zuschauerresonanz ist gottseidank genau so euphorisch, und so schwimme ich zur Zeit beruflich mal wieder in einer gewissen Seligkeit.

 

1984:

Heile Welt auch in Waitzdorf. Das Haus kommt Stück für Stück in Ordnung, parallel dazu ist das Kriechen durch die Schluchten rund ums Dorf jedesmal ein einzigartiges Naturerlebnis, und zudem bin ich bei den Einheimischen überaus beliebt. Mein Ansehen bei den Dörflern hat handfeste Gründe. Ich schleppe in meinem Trabi Woche für Woche „Konsumgüter“ von Berlin nach Waitzdorf, Dinge, die es hier unten im tiefsten Sachsen nicht gibt, wohl aber manchmal in der Hauptstadt: Sekt, Tempotaschentücher, H-Milch, Werkzeug, Gewürzgurken, Mischbatterien, einen Tiefkühl-Würfel, eine Hängerkupplung, einen Warmwasserboiler, Kekse, Schlagerplatten, Tapete, Schokolade, im Frühjahr Gurken, Tomaten, Erdbeeren, weil die in Berlin schon 3 Wochen früher auf dem Markt sind als hier, und so fort. Für unser Haus übrigens, weil es anders einfach nicht möglich war, besorgte ich die Badewanne von einem Berliner Schrottplatz.

Auf Dauer beliebt zu sein, ist für mich ungewöhnlich. Ich habe eine stachlige, ironische Art, mit meiner Umwelt umzugehen, da bleiben nicht viele Freunde. Um so mehr genieße ich das jetzt.

 

1996:

Neulich hatte ich per Zufall Kontakt zu jenem Kollegen, der hier in Dresdener Fernsehkreisen als erster IM geoutet wurde. Das ist drei Jahre her. Ich denke, nun könnte doch wohl Gras über die Sache gewachsen sein. Ich frage ihn, was er arbeitet, und er sagt: „Nichts. Ich habe nichts“. Der Mann ist Familienvater, promovierter Literaturwissenschaftler, Verfasser von Büchern, nachweislich auch ein Fernsehtalent.

Mich hat´s  innerlich geschüttelt. Ich hab ihm ein paar leere Trostworte rübergereicht und bin hastig gegangen.

Wenn es nicht zu gefährlich wäre, würde ich einen Fernsehbeitrag produzieren über das Schicksal der enttarnten IM´s. Wie es ihnen erging und ergeht. Seelisch, beruflich, familiär, finanziell, gesellschaftlich. Was da für Scherbenhaufen entstanden sind. Ich sehe immer Joachim Gauck vor mir, den Mann mit der grauenvoll sanften Stimme, wie er IMs niedermäht, als wären sie Unkraut.

Wir sollen uns selbst zu erkennen geben, Frieden schließen, indem wir unsere Verfehlungen bekennen. Dass ich nicht lache. Wer klettert  schon freiwillig auf den Scheiterhaufen?

Die Begegnung mit dem Bekannten hat mich wieder in tiefstes Grübeln gestürzt.

Wenn alles ans Tageslicht kommt, vermutlich schreiend laut und im Scheinwerferlicht, werde ich mich ausweglos fühlen, in die Ecke gedrängt, ich werde fiebrig-erregt nach einer Lösung suchen, wo es keine gibt – außer der einen, endgültigen.

Ich suche krampfhaft nach einem Fluchtort, einer Nische, in die ich mich verkriechen kann, aber ich finde keine. Ausland? Inland? Deutschsprachig möchte es schon sein, aber dann bin ich im Bereich unserer Medien, und vor denen fürchte ich mich am meisten. Und überhaupt – was dort tun? Und Alleinsein vertrage ich überhaupt nicht, habe ich noch nie vertragen, da werde ich verrückt.

Ich suche, finde nicht, gebe auf und suche von neuem.

 

2001:

Ich bin zur Zeit in Berlin, weil ich hier bei einer privaten TV-Produktionsfirma, die von einem ehemaligen Kollegen geführt wird, um Arbeit buhlen will. Und morgen –  ich schlafe bei Markus in Potsdam – kann ich bei der Gauckbehörde meine Opferakte einsehen. Ich hege dabei keine besonderen Erwartungen, schließe aber nicht aus, dass mich die Erkenntnisse doch ganz schön durcheinander wirbeln.

Ich habe, als ich vor ein paar Wochen bei der Gauckbehörde war, um die Einsicht in meine Opferakte zu beantragen, einen ziemlichen Aufstand veranstaltet.

Habe ihnen rüde meine Meinung gesagt, habe von Inquisition gesprochen, von der Zerstörung der Persönlichkeit, habe das Öffentlich-zur-Schaustellen  in den Medien verglichen mit dem mittelalterlichen Pranger, habe von Rache-Motiven gesprochen und von Stigmatisierung, und zum Schluss habe ich geschworen, dass ich alles festhalten, alles aufschreiben werde als Zeitzeugnis.

Die Dame war sichtlich verstört, versuchte, mich zu verunsichern, indem sie sagte „Sind Sie nicht der Mann, von dem in der Zeitung stand, er hätte einen anderen ins Gefängnis gebracht“, und als das nicht funktionierte, klagte sie, dass sie schon mit einigen meiner Kollegen zu tun hatte (u.a. Oliver Nix vom MDR), und dass die alle viel netter gewesen seien und sich nicht so aufgeregt hätten.

Was könnte mich da morgen erwarten?

Ich gehe davon aus, dass wegen meines kritischen Geistes und aufmüpfigen Gehabes zu DDR-Zeiten ich eine ziemlich umfangreiche Opferakte habe, angelegt insbesondere nach dem Einmarsch in die CSR und seit dem Beginn der Gorbatschow-Ära. Das hoffe und wünsche ich, das würde mir helfen, mein seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. 

Es ist aber nicht auszuschließen, dass ich mein „Revoluzzertum“ überschätze und sich nur sehr wenig findet.

Es könnte sein, dass der Hallenser, also D., in meiner Akte als Täter auftaucht (weil ihn die Stasi im Knast angeworben hat).Das würde mich nicht entlasten, aber Probleme bringen bei der noch immer nicht aufgegebenen Absicht, mich mit D. zu treffen und auszusprechen. Und schließlich befürchte ich, dass nach meinem renitenten Auftreten anlässlich meines ersten Besuches bei der Gauckbehörde und meiner Ankündigung, ich würde „alles aufschreiben, um ein Zeitzeugnis festzuhalten“, die Behörde gewisse, mich moralisch entlastende Akten zurückhält, um nicht nachträglich den bösartigen Umgang mit meiner Täterakte in den Medien noch mehr in Frage zu stellen.

 

2002:

Heute auf dem Elbe-Radweg. Zwei Männer kommen mir auf dem Fahrrad entgegen, der eine zeigt im Vorbeifahren auf mich und schreit: „Da ist er, der Verräter!“

Ich jage spontan hinter ihm her, zwinge ihn zum Halten, frage ihn, was er sich dabei denkt. Er antwortet geduckt, was ich denn wolle, es hätte doch alles in der Zeitung gestanden. Und im Internet stände es immer noch.

Stimmt. Das Internet. Der Dauer-Pranger, der ewige Supergau(ck). Dort wird von meinem Verrat auch dann noch zu lesen sein, wenn ich selbst gar nicht mehr bin.

Am Morgen danach:

Nach drei Stunden Schlaf bin ich aufgewacht, wieder klitschnaß, wieder Brennen im Bauch, das Hemd gewechselt, nach einer Stunde ist auch das nass, ich kann nicht mehr schlafen, kämpfe  nur noch mit der Seele, Kerstins Tröstungsversuche bewirken wenig, irgendwann schaffe ich es aufzustehen, als ich vor dem Bett stehe, beginne ich plötzlich zu schreien, zu brüllen, laut, tierisch, der ganze Frust in grausigen Tönen.

 

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